Selbstbeherrschung bei Hunden oder wer sind diese Kohlenhydrate?

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Hier wurde aber ausführlicher auf Ergebnisse und Erkenntnisse aus der Forschung eingegangen, die wir schon in dem Artikel "Was sind Kohlenhydrate" aus dem Jahr 2015 veröffentlicht haben. Viel Spass beim Lesen.

Gute Nachrichten für Halter mit gestressten Hunden und solchen, die wenig Impulskontrolle haben: Eine neue Studie zeigt, dass gerade leicht erregbare, ängstliche und nervöse Hunde von hochwertigen Kohlenhydraten profitieren.

Das Thema Selbstbeherrschung („Impulskontrolle“ in Hundefachsprache) ist extrem bedeutsam im Umgang mit Hunden. Impulskontrolle ist etwas, was der Hund lernen kann und muss, um in unserer menschlichen Welt klar zu kommen (nein, er darf die Weißwürste nicht vom Teller stehlen, nein, er darf das kleine Kind nicht stürmisch begrüßen, nein, er darf dem anderen Kind nicht sein Eis aus der Hand reißen, nein, er darf den anderen Hund nicht einfach angreifen, nein nein nein). Gleichzeitig berichten Trainer und Verhaltenstherapeuten von einer deutlichen Zunahme von Hunden, die so massive Stressmerkmale aufzeigen, so dass sie zu Impulskontrolle gar nicht mehr in der Lage sind.
Die amerikanische Psychologin Dr. Holly C. Miller beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit Studien zur Selbstbeherrschung und den dafür notwendigen Gehirnvorgängen, dem Zusammenhang von Stoffwechsel und Erinnerungsvermögen und Stress. In einer Studie aus dem vergangenen Jahr (Miller, Pattison et al) stellte sich heraus, dass Hunde, die Kopfarbeit leisten sollen, Stress ausgesetzt sind oder über schlechte Impulskontrolle oder Frustrationstoleranz (auf menschlich: Selbstbeherrschung) verfügen, viel gelassener bleiben, sich deutlich besser konzentrieren können und lösungsorientierter sind, wenn sie ausreichend mit Glukose oder Fructose versorgt wurden. In der Studie zeigte sich außerdem, dass die Gabe von Glukose oder Fruktose – also Kohlenhydraten – das Nachlassen von Impulskontrolle sogar ganz unmittelbar ausgleichen kann.

Die Studie

Zwölf Hunde (sechs Hündinnen und sechs Rüden, alle kastriert), die unter ähnlichen Bedingungen gehalten und alle mit positiver Verstärkung trainiert worden waren, wurden in zweimal sieben Tests innerhalb von zehn Tagen beobachtet. Nach einem „Sitz – Bleib!“ wurden sie für zehn Minuten in einem Raum allein gelassen, wobei sie genau beobachtet wurden. Anschließend bekamen sie ein Glukose-Getränk, ein Fructose-Getränk oder ein zuckerfreies Placebo. Danach wurde ihnen ein Futterspielzeug gegeben, in dem außer Würstchen noch Gegenstände waren, die zu groß waren, um aus dem Spielzeug zu fallen. Die Zeit, in der sich die Hunde mit dem Spielzeug beschäftigten, wurde genau gestoppt und aufgezeichnet. Im Ergebnis war die Ausdauer, mit denen die Hunde versuchten, das „Problem“ zu lösen, kaum zu unterscheiden, ob die Hunde nun Glukose oder Fructose bekommen hatten. Die Hunde, die das zuckerfreie Placebo bekommen hatten, gaben im Vergleich relativ schnell auf – das Gehirn vom Hund reagiert also insulinunabhängig.

Die Studie zeigt auch, dass Hunde, die kohlenhydratarm oder ganz ohne Kohlenhydrate ernährt werden (beispielsweise durch eine reine Fleisch- und Gemüsefütterung) schneller gestresst, erschöpft und frustriert sind. Mit Erziehung hat das wenig zu tun – es ist ein chemischer Prozess im Gehirn, gegen den das beste Training kaum ankommen kann. „Das Nachlassen von Selbstbeherrschung tritt dann ein, wenn die Glucose aufgebraucht ist und dann das Gehirn nicht mehr mit ausreichend Energie versorgt wird, um Reizen von außen widerstehen zu können“, sagt Dr. Daniela Zurr, Tierärztin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie in der ganzheitlichen Praxis  Bräuningshof. „Durch die Versorgung des Gehirns mit Kohlenhydraten wird Dopamin ausgeschüttet. Auch der Vagus-Nerv reagiert in Erwartung der bald folgenden Verdauung, wodurch Noradrenalin und Serotonin ausgeschüttet werden. Ohne die Botenstoffe Dopamin, Noradrenalin, ß-Endorphin und Serotonin kann das Gehirn keine Informationen verarbeiten.“ Mehr noch: Wenn Glukose direkt nach dem Training verabreicht wird, wird dem Gehirn damit der Erinnerungs-Prozess an das Neue, das der Hund soeben gelernt hat, deutlich erleichtert.

Der Hund kann sich auch alles Neue besser merken, wenn er nach dem Training Kohlenhydrate bekommt.

Als „angenehmer“ Hund gilt gewöhnlich einer, der in ungewohnten Situationen gelassen und ansprechbar bleibt, nicht über Tisch und Bänke geht und mit Stress entspannt umgeht – also ein Hund, der eine gute Selbstbeherrschung besitzt. „Viele Hundehalter übersehen häufig, dass es den Hund sehr, sehr viel Energie kostet, in unserer heutigen, sehr lebhaften und reizüberfluteten Umwelt ruhig zu bleiben, indem er allen diesen Prozessen, die um ihn herum stattfinden, nicht folgt“, sagt Dr. Zurr. „Das übrigens auch der Grund, warum Hunde, die unter Dauerstress stehen, irgendwann krank werden, weil die Reserven einfach aufgebraucht sind.“

Manche Hunde haben einen durchaus eigenwilligen Geschmackssinn – aber wie Menschen wissen sie oft nicht instinktiv, was gut für sie ist
Die Fähigkeit zur Impulskontrolle – also zur Selbstbeherrschung – ist anstrengend und erschöpft sich irgendwann. In einer früheren Studie (Miller et al, 2010) wurde gezeigt, dass bei einem Hund, der in aufeinander folgenden, verschiedenen Situationen immer wieder Impulskontrolle ausüben muss, diese Fähigkeit irgendwann aufgebraucht ist – so dass Selbstbeherrschung schlicht nicht mehr möglich ist. Ein Phänomen, das bei Menschen und Hunden gleichermaßen zu beobachten ist. „Es fällt dann viel schwerer, impulsives Verhalten zu kontrollieren“, erklärt Dr. Zurr. „Das kann im Alltag schnell mal passieren“, fügt sie hinzu. „Der Hund soll sich beherrschen, wenn er ein Kaninchen sieht, gleich darauf soll er zehn Minuten vor einem Geschäft still sitzen, und wenn er anschließend auf die Hundewiese darf, soll er alle rennenden Hunde ignorieren. Das alles hintereinander ist sehr anstrengend, und irgendwann ist der Akku einfach leer. Mit der Impulskontrolle ist es dann vorbei.“ Der Hund führt sich auf, pöbelt an der Leine herum, und der Mensch ist ganz baff, wieso sich der Hund, der vorhin noch so gesittet und entspannt war, nun plötzlich in einen wilden Troll verwandelt hat.

Manchmal kann man das auch im Training beobachten: Auf einmal kann der Hund nicht mehr, zeigt alle möglichen Stressignale und scheint „über den Punkt“ zu sein:
Training – für das je nach gestellten Aufgaben ein hohes Maß an Impulskontrolle nötig ist, verbraucht sehr viel Energie, selbst wenn man kaum vom Fleck kommt. Anschließend sinkt die Konzentrationsfähigkeit auf einen ganz niedrigen Level.

Die Studie von Miller zeigt: Bekommt der Hund dann Kohlenhydrate, ist alles wieder gut.

Bereits in einer früheren Studie von Dr. Miller wurde gezeigt, dass „verbrauchte“ Selbstbeherrschung auch alle anderen Energiereserven des Hundes erschöpft, wie auch seine Fähigkeit, überhaupt noch anspruchsvolle Aufgaben auszuführen. In jener Studie bekamen die Hunde einen Keks gezeigt, der anschließend in einem von sechs Behältnissen versteckt wurde. Hunde, die vor 30 Minuten Frühstück bekommen hatten, fanden den Keks deutlich schneller und zielstrebiger als die Gruppe von Hunden, die das letzte Mal vor zwölf Stunden gefüttert worden waren.
„Die Kernbotschaft ist ganz einfach“, sagt Dr. Miller. „Frühstück unterstützt die Gehirnleistung von Hunden.“ Und fährt fort: „Wenn Hunde hungrig sind, sind sie weniger in der Lage, ihr Verhalten zu kontrollieren. Das dürfte der Grund dafür sein, warum hungrige Hunde häufig weniger berechenbar und leicht gereizt sind.“

Mehr noch: „Wenn das Futter die Gehirnfunktionen nicht optimal unterstützt, wird die Fähigkeit des Hundes, Stress zu verarbeiten, deutlich gesenkt“, sagt Dr. Zurr. Damit der Hund sich überhaupt konzentrieren kann, muss erst einmal die Grundenergieversorgung sicher gestellt werden – was die Trainingsmethode, sich den Hund sein Futter „erarbeiten“ zu lassen, in ganz neuem Licht erscheinen lässt: Der Hund gerät unter massiven Stress, denn seine Konzentrationsfähigkeit läuft schon auf den letzten Reserven – soviel zu Training, dass Spaß machen soll.
„Bevor ein Hund gelassen reagieren kann, muss man ihm erst einmal Energie zur Verfügung stellen, damit er überhaupt in einen leistungsfähigen Modus kommt“, sagt Dr. Zurr. „Laut einer anderen Studie sind auch Hunde, die nüchtern zum Tierarzt müssen, deutlich gestresster als wenn sie vorher gefüttert wurden. Wenn ausreichend Energieversorger (also Kohlenhydrate) gefüttert wurden, hat der Hund nachweislich weniger Stress.“

Das verändert auch die Paradigmen für impulsive, ängstliche oder aggressive Hunde erheblich, die mit einem erhöhten Anteil an Kohlenhydraten im Futter sehr unterstützt werden können. Schon in einer Studie aus dem Jahr 2000 fand man heraus, dass territorial-aggressive Hunde durch Eiweiß-reduziertes, Tryptophan-angereichertes Futter ausgeglichener wurden (DeNapoli, Dodman et al. 2000) – damals stellte man allerdings noch nicht die Verbindung zum erhöhten Kohlenhydrat-Gehalt der Hundenahrung her.

Kohlenhydrate in der Hundeernährung sind dabei seit vielen Jahren ein heißes Thema: Der Hund stamme vom Wolf ab, und der jage nun einmal kein Getreide, lautet eine These. Sieht man sich im Internet um, begegnen einem schon unter den ersten sieben Klicks weitere Meinungen:„Der Hund ist ein Fleischfresser“; „Glukose ist denkbar ungesund; „Hunde könnten keine Kohlenhydrate verdauen“; „Ernährung mit Kohlenhydraten ist bei Hunden nicht nur überflüssig, sondern kann sogar krank machen“, oder: „Überlegen Sie mal, was die artgerechte Ernährung eines Hundes ist! Was würde ein Hund in freier Wildbahn fressen? Natürlich: Fleisch – und keine Kohlenhydrate!“

Nicht eine dieser Ansichten ist wissenschaftlich haltbar. Der Hund ist keineswegs ein Fleisch- sondern ein Allesfresser, der durchaus von Pflanzenfasern und Stärke profitiert (was ein echter Fleischfresser, wie z.B. die Katze, nicht kann). Sein Stoffwechsel und Dünndarm – der im Verhältnis länger ist als der eines echten Carnivoren – sind die eines Allesfressers. Den „Hund in freier Wildbahn“ gibt es bis auf den australischen Dingo nicht, nur Straßenhunde oder ausgesetzte Hunde: Sie alle ernähren sich hauptsächlich von Abfall, also sehr kohlenhydratreich.

Die Spezies Hund entwickelte sich vor Zehntausenden von Jahren im engen Zusammenleben mit dem Landwirt Mensch und lebte von dem, was dieser ihm übrig ließ – was eher Getreide- und Gemüseabfälle als Nackensteak waren, denn Fleisch war wertvoll und wurde nicht verschwendet. Dadurch hat sich der Hund in seiner Evolution im Vergleich zum Wolf entscheidend genetisch verändert: Eine schwedischen Studie, die im Januar 2013 veröffentlicht wurde (Axelsson et al) bewies, dass der Hund über 30 Kopien des Gens für Amylase verfügt – dem Protein, das die Aufspaltung von Stärke im Verdauungstrakt beginnt. Wölfe verfügen dagegen nur über zwei dieser Gene. Außerdem verfügt der Hund über ein weiteres Gen für den Abbau (= Verwertung) von Stärke, das in seiner Ausprägung lediglich bei Pflanzenfressern wie Hasen und Kühen oder Allesfressern wie Ratten vorkommt –nicht aber bei Fleischfressern.

"Der Wolf hat keinerlei biologischen Vorteil von Impulskontrolle", so die Wolfs-Expertin Elli Radinger

Der Wolf verfügt übrigens über so gut wie gar keine Selbstbeherrschung.  Wozu denn auch? Er braucht sie nicht im tägliche Leben, im Gegenteil: eine schnelle Reaktion rettet ihm im Zweifelsfall das Leben. Dem Hund dagegen rettet im Zusammenleben mit dem Menschen gerade die Selbstbeherrschung das Leben: Er darf eben nicht immer bellen, wenn er möchte, er muss sich zurückhalten können, auch wenn er etwas will, er soll nicht beißen, auch wenn ihm danach ist.

Der Hund kann im Gegensatz zum Wolf Kohlenhydrate also nicht nur verdauen, sondern profitiert auch davon. Kohlenhydrate sind die am schnellsten verfügbare Energiequelle und dementsprechend wichtig für Sprinter, Rennhunde oder Flyball-Athleten. Insbesondere das Gehirn ist in hohem Maße von Glukose als Energieträger abhängig, weil es keine Fette verwerten kann. Daher auch der Ausdruck von Kohlenhydraten als „Nervennahrung“.

„Das Verteufeln der Kohlenhydraten, das von einigen Nahrungs-Extremisten vertreten wird, ist nicht korrekt und fügt dem Hund tatsächlich sogar Schaden zu“, sagt Dr. Zurr. „Das Gehirn des Hundes benötigt eine ausreichende Versorgung mit Zucker-Arten, und die stammen nun einmal aus Kohlenhydraten. Man kann sogar so weit gehen, dass der durchschnittliche Hund heutzutage im modernen Alltag die Kohlenhydrate noch mehr braucht, als ein Hund, der relativ ruhig und zurückgezogen auf einem Bauernhof wohnt, wo den ganzen Tag nichts passiert.“

Ein Stadthund oder ein Hund, der viel zu unterschiedlichen Orten mitgenommen wird und sehr vielen Reizen ausgeliefert wird und deswegen auch kontinuierlich diese Selbstbeherrschungs-Leistung aufbringen muss, braucht also Kohlenhydrate.
Kohlenhydrate sind komplexe Verbindungen aus vielen einzelnen Zuckermolekülen. Entsprechend der Anzahl der Zuckermoleküle (und damit der Größe des Kohlenhydrats) spricht man von Einfach-, Zweifach- oder Mehrfachzuckern. Einfachzucker sind z.B. Glukose, Fruktose und Galactose. Mehrfachzucker Kohlenhydrate sind der Hauptenergielieferant für den Organismus. Sie sind im Gegensatz zu den Fetten relativ schnell verwertbar. Jede Körperzelle kann Glucose aufnehmen bzw. wieder abgeben. In den Zellen der verschiedenen Organe liefert sie entweder durch Verstoffwechselung die chemische Energie für Muskelarbeit oder die Gehirnaktivität.

Ernährung ist nicht nur Liebe und Nahrung, sondern auch eine Wissenschaft. Wissenschaft entwickelt sich ständig weiter und liefert uns überprüfbare Methoden, um herauszufinden, welche Nährstoffe und Nahrungsmittel unsere Hunde brauchen und welche ihnen gut tun, und mit welchen sie nichts anfangen können. Wir brauchen die Wissenschaft nicht nur, um herauszufinden, welches Futter die ideale Wahl für unseren Hund ist, um ihn gesund zu erhalten, sondern auch, um Wahrheit, Halbwissen und Hype auseinander halten zu können. Nehmen Sie sich die Zeit für Recherche, wählen Sie mit Bedacht und lassen Sie sich nicht von Meinungen und Gefühlen anderer leiten. Es ist schließlich Ihr Hund.

Wegen der vielen Nachfragen lietse ich hier die einzelnen Studien auf, auf die ich mich in meinem Artikel u.a. beziehe:
http://pss.sagepub.com/content/23/10/1137
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4340790/
http://pss.sagepub.com/content/23/10/1137
Miller HC, Pattison KF, Laude JR, Zentall TR. Self-regulatory depletion in dogs: insulin release is not necessary for the replenishment of persistence. Behavioural Processes 2015
Miller HC, Bourrasseau C, Blampain J. Can you enhance executive control without glucose? The effects of fructose on problem solving. Journal of Psychopharmacology (Oxford, England, 2013)
Miller HC, Bender C. The breakfast effect: dogs (Canis familiaris) search more accurately when they are less hungry (2012)
Miller HC, DeWall CN, Pattison K, Molet M, Zentall TR. Too dog tired to avoid danger: self-control depletion in canines increases behavioral approach toward an aggressive threat. Psychonomic Bulletin & Review. 2012
Miller HC, Pattison KF, DeWall CN, Rayburn-Reeves R, Zentall TR. Self-control without a „self“?: common self-control processes in humans and dogs. Psychological Science. (2010)
Holden JM, Meyers-Manor JE, Overmier JB, Gahtan E, Sweeney W, Miller H. Lipopolysaccharide-induced immune activation impairs attention but has little effect on short-term working memory. Behavioural Brain Research. 2008

Kategorien: Ernährung Hund

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